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Objekt des Monats Dezember 2020 / Jänner 2021

Objekt des Monats Dezember 2020

Inv. Nr. 6831

Ein kleiner Buchkasten

Inv. Nr. 6831

Schätze gibt es in allen Größen und Formen. Für viele müssen sie glitzernd und vor allem teuer sein, doch manche sehen in etwas nahezu Gewöhnlichem den originellsten Schatz von allen. Bücher sind heute kaum mehr besonders. Oft werden sie liebend gerne gegen digitale Versionen eingetauscht. Die Vorteile sind zweifelsfrei zu sehen: Anpassen der Schriftgröße, Aufziehen von Bildern, Verlinkungen zu Erklärungen und Übersetzungen. So gilt man heute beinahe als Außenseiter, wenn man ein Buch aus Papier verwendet. Doch für Bibliophile – also Menschen, die Bücher lieben – sind und bleiben sie etwas Besonderes, etwas Schützenswertes.

Doch wie ein Buch schützen? Und vor welchen Gefahren? Am besten verwahrt man ein Buch in einem eigens dafür angefertigten Behältnis. Natürlich muss es darin vor Staub und vor allem vor Feuchtigkeit geschützt sein. Ideal wäre es dann auch noch, wenn man dieses Behältnis ohne großen Aufwand mit sich herumtragen könnte. Wir möchten Ihnen nun einen französischen Buchkasten aus dem 15. Jahrhundert vorstellen, der all diese Aufgaben zur besten Zufriedenheit erfüllen konnte:

Der Buchkasten Inv. Nr. 6831:

Die kleine rechteckige Kassette hat eine Höhe von 10,3 cm, ist 15,2 cm lang und 11,2 cm breit. Das Innere zeigt eine Holzkassette als Grundstruktur, die im Anschluss am Rahmen der Innenseite des Deckels mit einer juteähnlichen Stoffschicht überzogen wurde. Der Boden der Kassette wurde außen mit einer Eisenplatte vernietet. Die äußere Schicht bildet ein Maßwerk, das sich wie ein eisernes Netz über die Kassette spannt. Auf der Rückseite halten vier Scharniere das Deckelstück am Bodenstück. Durch das Maßwerk ist vereinzelt Holz zu erkennen. Das Netz wird an den Kanten und Ecken ausgespart und wird zu einer undurchbrochenen Leiste. Die Innenseite weist Reste eines Klebstoffs auf. Es dürfte also im Laufe der Zeit einmal ein Bild oder Text oder auch Stoff die Innenseite des Deckels verziert haben. Auf der rechten und linken Seite finden sich im vorderen Bereich jeweils eine runde Öse. Das Lederband, mit dessen Hilfe man die Kassette umgehängt tragen konnte, ist über die Jahre vermutlich mehrfach ersetzt und schließlich endgültig verloren gegangen.

Der Deckel ist leicht gewölbt und zentral ist ein Rechteck durch Leisten hervorgehoben. Interessant ist nun die Vorderseite. Hier ist das Überfallenschloss mit Vexier (Trickschloss) zu sehen. In der Mitte befindet sich ein rechteckiges Ornament. Dies ist durchbrochen und erinnert an einen Baum oder eine Feder. Flankiert wird das Ornament von zwei mehrfach durchbrochenen Säulen. Das Vexier lässt sich durch einen Stichel (spitzer Metallstift) öffnen. Hier wird ein Haken zur Seite gedrückt, danach kann die Schlüsselabdeckung geöffnet werden. Leider ist der Schlüssel nicht mehr vorhanden.

Die Kassette zeigt Gebrauchsspuren, sie wurde an den hinteren beiden Ecken des Deckels gelötet. Auch wo der Stichel eingeführt wird, wurde das Maßwerk verletzt. Zwischen dem Netz sind immer wieder Reste von rotem Staub zu erkennen. Es könnte sich dabei um Farbreste handeln, mit denen das Holz eingelassen war oder aber auch um Minium (Mennige), ein bleihaltiges Rostschutzmittel. Eine genauere Analyse war zum derzeitigen Zeitpunkt nicht möglich.

Vom Ursprung der Buchkästen

Ansicht: Geöffnete Kassette

Im Mittelalter galten Bücher als etwas Kostbares, ihr Inhalt und ihre Entstehungssituation, die kunstfertigen Verzierungen und das Material machten sie wertvoll. Verwahrt wurden die Bücher in „Buchkästen“, damit sind Kästchen gemeint, in die die Bücher hineingelegt werden konnten, um so vor Staub und Feuchtigkeit geschützt zu sein. Hans-Walter Stork erklärt: „Mit ‚Buchkasten‘ sind […] eigenständige Schatullen gemeint, die separat vom darin aufbewahrten Buch eine Einheit bilden und in denen sich, lose eingelegt, das zu schützende Buch befindet.“[1] Als noch vermehrt mit Schriftrollen gearbeitet wurde, konnten diese in sogenannten capsa lat. für Behälter verwahrt werden. Die Schrift- und Buchrollen wurden hier aufrecht hineingestellt. Neben Buchkästen gibt es noch eine weitere Variante Bücher zu verwahren, nämlich in Form von Kastenbüchern. Hier sind das Buch und die Kassette untrennbar miteinander verbunden. Der Einbanddeckel und das Buch sind so miteinander verarbeitet, dass das Buch in geschlossenem Zustand gleichsam das Kästchen verschließt. [2]

Buchkasten des Uta-Evangelistar

Die Buchkästen wurden hauptsächlich für liturgische Schriften angefertigt. Kleinere und weniger verzierte Buchkästen konnten auch für Mirakel- und Wunderbücher gedient haben. Doch die prachtvollen Einbände dienten als Schutzmantel allein für die heiligen Schriften. Zu nennen sind beispielsweise der Codex Aureus von St. Emmeram (um 870), der Einband des Perikopenbuchs Heinrichs II. (1007-1012) und das Evangeliar Ottos III (um 1000).[3] Zu einem der bekanntesten Buchkästen gehört jener des Uta-Codex, auch Uta-Evangelistar. Dieser liturgische Codex aus dem 11. Jahrhundert wurde im Auftrag der Äbtissin Uta von Niedermünster mit einem dazu passenden Buchkasten angefertigt. Heute befindet sich das Werk inklusive Buchkasten in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, wo es seit 1811 verwahrt wird.[4]

In der Literatur finden sich immer wieder Lobeshymnen auf die Buchkästen, die so reich verziert und somit wertvoll sind, um dem Wort Gottes einen entsprechenden Rahmen geben zu können. Auch den verwendeten Materialien wird eine Bedeutung zugewiesen. So wird beispielsweise Reinheit durch Elfenbein dargestellt und die Weisheit Gottes mithilfe von Gold dargestellt.[5] So schreibt Smaragdus von St. Mihiel im Präfationsgedicht zu seinem Psalmen-Kommentar 1140:[6]

Aurea farmose componit capsa libellum. Ditis et hunc nostrum, dogmata sancta patrum. Auro diffulvo nitidum circumdat ebernum; Ut foris ornantum possit habere librum.

Ein goldenes und reich ausgestattetes Behältnis birgt auf schöne Weise dieses unser Buch, die Lehren der heiligen Väter; Von überall glänzendem Gold leuchtendes Elfenbein umgibt es, so dass das Buch auch äußerlich seinen Schmuck hat.[7]

Inv. Nr. 4147

Auch die Schell Collection besitzt zwei außergewöhnlich verzierte Buchkästen. Es handelt sich hierbei um zwei französische Buchkassetten aus Frankreich, die im Inneren des Deckels mit farbigen Holzschnitten ausgelegt sind. Buchkästen dieser Art sind besonders selten und daher entsprechend wertvoll. Die Inv. Nr. 4147 zeigt die Arma Christi mit Geißelsäule, Ysopzweig, Dornenkrone, Essigschwamm, Lanze und Geißel.[8]

Die Inv. Nr. 3577 bildet die Darstellung des „Ecce Homo“ (Schmerzensmann) mit Maria ab. Zentral ist das Kreuz mit der Inschrift „INRI“ zu sehen.[9] Das untere Viertel des Holzschnittes zeigt einen französischen Text:

 

„Hélas mon cher enfant et ma seule espérance pardonne auxpécheurs lesquels ont déplaisance. Ma chère mère de bon coeur vous accorde Qu’aux vrais repentants ferait miséricorde.“

Inv. Nr. 3577

„Ach, mein liebes Kind und meine einzige Hoffnung. Vergib den Sündern, die Missfallen verspüren. Meine liebe Mutter gesteht Euch aus gutem Herzen zu, dass den wahrhaftig Reumütigen Barmherzigkeit gewähret wird.“[10]

Beide Kassetten stammen aus dem 15. Jahrhundert und sind aufgrund der colorierten Holzschnitte als besonders wertvoll einzustufen. Diese hervorragend erhaltenen Buchkästen unterscheiden sich auch in der äußeren Verarbeitung vom ausgewählten Objekt des Monats. Findet sich bei der vorgestellten Kassette ein feines Gitternetz, so wurden die Buchkästen mit coloriertem Holzschnitt durch einen Einband aus Leder und schmiedeeisernen Leisten geschützt.

Zur Verwendung des Buchkastens Inv. Nr. 6831

Wir haben es hier mit einem Buchkasten zu tun, der einen wesentlichen Vorteil gegenüber den überladenen, verzierten Kästchen mit sich bringt. Aufgrund der relativ glatten Oberfläche erscheint das Museumsstück einen wesentlich praktischeren Auftrag erfüllt zu haben. Auch die beiden Transport-Ösen an den Seiten lassen darauf schließen, dass es sich hierbei um einen Buchkasten handelt, der weniger dem repräsentativen Charakter gedient zu haben scheint, aber umso mehr in Verwendung gewesen sein dürfte. Dass das Schloss durch ein Vexier gesichert ist, erwägt auch die Vermutung, dass es wohl nur vom Besitzer geöffnet werden hätte sollen. Aufgrund der Größe des Buchkastens, lässt sich annehmen, dass auch das befindliche Werk, das transportiert wurde, eher ein kleineres Gebets- oder Mirakelbuch gewesen sein könnte. Der Träger dürfte somit ein Geistlicher gewesen sein, der mit hoher Wahrscheinlichkeit von Tür zu Tür ging oder auf Reisen seine Gebete an Gläubige weitergab. Nun finden sich in der Schell Collection weitere Buchkassetten mit ähnlichem Maßwerk in verschiedenen Größen. Ihnen gemeinsam ist die Herkunft: Frankreich. Zeitlich ordnen sie sich im 14./15. Jahrhundert ein.

Vergleichsobjekte in der Schell Collection

Vorderansicht

In der Schell Collection befinden sich insgesamt acht Buchkästen. Gemeinsam ist ihnen der Aufbau als Holzkästchen und der Überzug aus Schmiedeeisen. Fünf dieser Kassetten ähneln sich hinsichtlich ihres Schlosses. Das Schlüsselloch wird durch eine Klappe verschlossen, die rippenähnlich aufgebaut ist. Die Überfalle ist zentral mit einem Ornament verziert, das an eine Feder oder einen Baum erinnert. Die Ausläufer drehen sich zu beiden Seiten. An beiden Seiten des Ornaments steht jeweils eine Säule, die ebenfalls rippenähnlich durchbrochen ist. Direkt auf Höhe des Schlüssellochs verdickt sich die Säule und wird nicht mehr durchbrochen. Der Vergleich der fünf Kassetten mit ähnlichem Schloss zeigt, dass mancherorts ein Element fehlt. Das ausgewählte Kästchen zeigt zumindest von außen ein unbeschädigtes Schloss.

 

Ansicht: Maßwerk

 

 

Wirft man nun einen vergleichenden Blick auf das Gitternetz (Maßwerk) der Kästchen, dann lassen sich hier gravierendere Unterschiede feststellen. So finden sich fischblasenartige oder auch blumenförmige Ornamente. Die ausgewählte Kassette besticht jedoch durch ein symmetrisches und aufgrund der Größe außergewöhnlich dünnes Gitternetz.

 

 

 

 

 

Nun lässt sich die Frage stellen, wie ein solches feines Gitternetz zu dieser Zeit hergestellt werden konnte. Die einfachste Antwort wäre es zu gießen. Doch da gegossenes Eisen eher zur Brüchigkeit neigt als geschmiedetes und das Netz ja einen Schutz bieten sollte, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein geschmiedetes Netz handelt. Doch wie kann ein so feines Netz geschmiedet werden? So sind nämlich die feinen Drähte eben, keiner führt merklich durch, unter oder über den anderen. Christoph Feichtl, seinerseits Burgschmied der Riegersburg in der Steiermark gibt Antwort. Auf die Frage hin, ob denn so ein feines Schmieden überhaupt möglich sei, entgegnet er der Verfasserin, dass es wohl mit heutigen Öfen leichter sei als damals. Seiner Theorie zu Folge, wurden die Drähte noch im kalten Zustand mit Einfeilungen versehen. Dann könnten die Drähte ineinandergelegt (Abbildung 1) und im Anschluss verklopft werden, sodass sie bereits ineinander halten (Abbildung 2). Schließlich würden das Gitter vorsichtig auf über 1200° erhitzt und mit einem Flussmittel (z. B. Quarzsand) bestreut werden. Schließlich würde das Gitter mit schnellen, leichten Schlägen feuerverschweißt (Abbildung 3).

 

 

Ob sich die Schmiede in Frankreich dieser Technik bedienten oder einen anderen Trick erfunden hatten, bleibt offen. Doch zeigt die Beschäftigung mit dem Buchkasten, dass nicht nur das eingelegte Werk seine Aufmerksamkeit verdient, sondern auch dass das Behältnis selbst von handwerklichem und technischem Wert zeugt.

 

Text und Fotos (Objekte der Schell Collection sofern nicht anders angegeben): Gerhild Santner, MA

Foto des Deckels des Uta-Evangelistar: https://einbaende.digitale-sammlungen.de/Prachteinbaende/Clm_13601_Buchkasten_Hauptaufnahme abgerufen am 19.11.2020.

Fotos Inv. Nr. 3577 und Inv. Nr. 4147: Mag. Martina Pall

Funktionszeichnungen: Christoph Feichtl

 

Literatur:

Pall, Martina: Himmlische Objekte. Kästchen, Schlüssel und Tabernakeltürchen aus der Schell Collection Graz. Eigenverlag: 2016.

Stork, Hans Walter: Mittelalterliche Buchkästen. In: Buchkunst in Mittelalter und Kunst der Gegenwart – Scrinium Kilonense: Festschrift für Ulrich Kuder. Nordhausen 2008, (S. 291-319)

Pommersfelden, Schloß Weissenstein, Schloßbibliothek, Hs 335 (2772). Zum Praefationsgedicht vgl. Irene Schmale Ott: Ein unbekanntes Gedicht des Smaragdus. In: DA 10, 1953,504-506. Zitiert nach: Stork, Hans Walter: Mittelalterliche Buchkästen. In: Buchkunst in Mittelalter und Kunst der Gegenwart – Scrinium Kilonense: Festschrift für Ulrich Kuder. Nordhausen 2008, (S. 291-319)

https://daten.digitale-sammlungen.de/~db/ausgaben/thumbnailseite.html?fip=193.174.98.30&id=00075075&seite=231 ff. abgerufen am 19.11.2020.

 

[1] Hans-Walter Stork: Mittelalterliche Buchkästen. In: Buchkunst in Mittelalter und Kunst der Gegenwart – Scrinium Kilonense: Festschrift für Ulrich Kuder. Nordhausen 2008, S. 291 (S. 291-319).

[2] Vgl. Ebd. S.291f.

[3] Vgl. Ebd. S. 300.

[4] Vgl. https://daten.digitale-sammlungen.de/~db/ausgaben/thumbnailseite.html?fip=193.174.98.30&id=00075075&seite=231 ff.

[5] Vgl. Stork, 2008, S. 295.

[6] Vgl. Stork, 2008, S. 294.

[7] Pommersfelden, Schloß Weissenstein, Schloßbibliothek, Hs 335 (2772). Zum Praefationsgedicht vgl. Irene Schmale Ott: Ein unbekanntes Gedicht des Smaragdus. In: DA 10, 1953,504-506. Zitiert nach: Stork, 2008, S. 294.

[8] Martina Pall: Himmlische Objekte. Kästchen, Schlüssel und Tabernakeltürchen aus der Schell Collection Graz. Eigenverlag: 2016. S.38.

[9] Ebd. S.27.

[10] Vgl. ebd.